Eigentlich sollte ich jetzt im Großen Festsaal des Landkreises in Bad Doberan sein um dort der Laudatio von Ministerin Stefanie Drese zu Ehren der Reddelicher Obstarche zuzuhören. Statt dessen sitze ich nun zu Hause, und versuche gegen den Winterblues anzuschreiben. Warum? Nun, der Eigentümer des historischen Gebäudes, der Kreis Rostock-Land, hat mir zu verstehen gegeben: Du da im Rollstuhl, bleib Du mal lieber Zuhause! Natürlich hat mir das kein Verantwortlicher wörtlich gesagt, aber das Gebäude ist öffentlich und NICHT barrierefrei. Eine Kombination, die es nach geltendem Recht garnicht geben dürfte. Das finde ich beschämend!
Dabei ist der Saal, in dem 1801 als Großherzogliches Salongebäude errichteten Bauwerk, ein würdiger Ort für gesellschaftliche Festlichkeiten. Einen Besseren hätte Ministerin Drese in der Region nicht finden können, um das Projekt Obstarche des Kulturvereins für Reddelich und Brodhagen e. V., im Rahmen seines traditionellen Neujahrsempfangs, auszuzeichnen. Ich weiß wovon ich Rede. Dort habe ich bereits meine Jugendweihe erhalten, wie auch meine Geschwister, Tochter und Enkel.
Als Familienvater habe ich mich auch über die primitive und unfallträchtige Alurampe ins Gebäude wrangen lassen. Dies unter den Augen von – gefühlten – hundert umstehenden Leuten. Und es kam auch schon, wie es kommen musste: Weil von den „hundert“ hilfsbereiten Händen keine zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle zugepackt hat, lag ich plötzlich neben meinem Rollstuhl auf dem Gehweg. Wie der sprichwörtliche „Maikäfer auf dem Rücken“. Wie entwürdigend!
Dies tu ich mir in öffentlicher Funktion nicht an. Da erwarte ich einfach, dass öffentliche Auftrittsorte gesetzeskonform, also barrierefrei zu erreichen sind. Mein Ziel ohne direkte, fremde Hilfe zu erreichen, heißt für mich barrierefrei. Das ist sehr oft mit einfachen Mitteln zu erreichen.
Meine Erfahrung jedoch ist: Je weiter weg vom „normalen“ Leben Entscheidungen getroffen werden, also je „wichtiger“ Entscheidungsträger sind, je schlechter für Mitmenschen mit Einschränkungen. Eine Erfahrung, die ich mit vielen teile. Es ist ja auch publicityträchtiger über millionenschwere Inklusionsprojekte zu fabulieren, als einfach und unspektakulär Barrieren aus dem Weg zu räumen. Zu dieser These verweise ich auch auf die „Bahnposse“ in Reddelich.
Nun ist es ja nicht so, dass ich beim Festsaal des Landkreises nur unkonstruktiv am Meckern bin. Mein Vorschlag an den Behindertenbeirat des Landkreises zur Lösung war, den Gehweg als Doppelrampe auf das Niveau der obersten Stufe des Eingangs anzuheben und den Absatz zur Straße mit einer geeigneten Absperrung zu sichern. Die Antwort war entwaffnend und bezeichnend zugleich: »Das geht nicht, das Gebäude gehört dem Landkreis, der Gehweg der Stadt Bad Doberan.« Ob künftige Generationen es auch so sehen werden, dass die Kleinstaaterei in Deutschland mit der Reichsgründung 1871 ein Ende hatte, wie es heute gelehrt wird? Abhilfe für die Eigentümerdissonanzen zur barrierefreien Erreichbarkeit des Festsaales könnte eine alte Forderung von mir bringen: die Abschaffung des Landkreises.
Natürlich wurde mir von den Baum- und Kulturfreunden angeboten, mich notfalls mit „vier Ecken – vier Mann“ in den Saal zu tragen. Das Angebot habe ich dankend, aber bestimmt abgelehnt. Die Ablehnung des Angebotes aus dem Sozialministerium, den Festakt im würdevollen Ambiente des Großen Festsaales durchzuführen stand – zu meiner großen Erleichterung – nicht zur Debatte. Ausrichter und Gäste des Neujahrsempfangs können ja nichts für die Situation.
Übrigens, das Bonmot in der Überschrift lautet vollständig:
Behindert ist man nicht, man wird behindert.
Ulf Lübs
Bürgermeister